Urachus

Roman
Endlich alt sein, Falten haben, langsam sein dürfen! Das wünscht sich Eleonora, genannt Leon. Ihre Freundin Tabea führt ein geregeltes Leben als Lehrerin und Mutter. Doch manchmal wacht sie an unbekannten Orten auf, erinnert sich nicht an vergangene Stunden. Tabea ahnt nicht, dass Leon den Grund für ihre Gedächtnislücken kennt ... Doch eines Tages beginnt Leon zu erzählen: Sie spinnt ein Netz eigener und fremder, mythologischer und märchenhafter Geschichten - und stellt Tabea Fragen. Kann sie so Erinnerungen wecken?
Ein stilistisch außergewöhnliches Porträt der menschlichen Psyche, eine Hommage an das Alter und die Freundschaft mit sich selbst.
"Zu seinem 70. Geburtstag schenkte ich ihm Seifenblasen und einen Hula-Hoop-Reifen. Ich hatte keine Angst, dass er sterben könnte. Mein Tod war mir näher als seiner."
"Hast du schon mal drauf geachtet, wie zärtlich faltige Hände ein Treppengeländer umfassen? Wie harmonisch es zwischen Tasse und Untertasse klirrt, wenn sie zitternd zum Tisch getragen werden? Welche unglaubliche Schaffenskraft rheumatoide Arthritis hat, wie sehr sie eine Hand neu gestalten kann? Eine Hand, die ein ganzes Leben lang eine feste Form hatte, und plötzlich, nach 70, nach 80 Jahren schlagen die Gelenke eine neue Richtung ein? Wenn du es nicht Schönheit nennen willst, in Ordnung. Aber benenn es irgendwie. Anders als Krankheit und Hässlichkeit. Das haben diese Dinge verdient."
"Meine Oma strahlte Ruhe aus, ihre Langsamkeit tat mir gut. Sie schien keine Erwartungen mehr zu haben - schon damals ahnte ich, dass das auch hieß: keine Enttäuschungen, keinen Schmerz. Wenn es irgendwo versäumte Fragen oder eine Schuld gab, so waren diese längst versunken hinter der gezeichneten Haut, den milchigen Augen. Meine Oma ließ sich nur begeistern für kleine Dinge, Gesten, Langsames. Ich spürte schon damals, dass ich das brauchte, und so begann ich, es mir auch in mir selbst herbeizuwünschen, das Altsein."
"Hast du jemals, auch nur eine Sekunde lang, versucht, den Tod zu lieben? Den Gedanken schön zu finden, dass wir eines Tages nicht mehr sein werden, in Erinnerungen und Erzählungen eingehen und in den ewigen Kreislauf der Natur? Hast du jemals versucht, ohne Wertung, ohne Angst auf Falten oder graue Haare zu blicken, ihre Farbe, Struktur, ihre Bewegung zu betrachten? Versuch es. Es ist ein so befreiendes Gefühl. Man kann sich selbst loslassen. Und die Frage nach einer Schuld löst sich von selbst auf."